01.04.2022

Grau in Grau

Sie sitzt immer noch eingesperrt zu Hause. Doch sie fühlt sich nicht eingesperrt. Jetzt versteht sie zum ersten Mal die schweigenden Nonnen von Mayerling. Sie haben ihr gesagt, dass sie nicht eingesperrt sind, sondern dass die Welt ein Gefängnis ist. Damals machte sie sich über die schweigenden Nonnen lustig. Und heute, nach 20 Jahren, glaubt sie, zu verstehen: 

Das nichts Tun können ist nicht das Gefängnis. Das Krank Sein auch nicht. Auch nicht das Alleine-Sein. Im Zimmer. (Schon gar nicht in ihrem Zimmer mit der wunderschönen Aussicht). Nein, der Alltag ist ihr Gefägnis. Das ständige Tun-und-Funktionieren-Müssen. Das mehr als Alles-geben-müssen. Das Besser-Sein-Müssen. Nicht nur besser als die anderen. Sondern besser als man selbst. Das ständige Hinterherjagen. Die Jagd nach dem Perfekt-Sein. In allen Bereichen. In ihrer Arbeit mit den Kindern. In ihrer Beziehung mit ihrer Partnerin. In ihren Familien und mit den Freundinnen. Danach, alles gut und toll und richtig zu machen. Immer auf der Hut. Um die kleinsten Fehler so schnell wie möglich zu bemerken. Um sie dann reuig, gebückt, mit niedergeschlagenen Augen wegzukehren und alles "wieder gut machen". Wieder gut machen. Das hat einen fahlen Geschmack, wenn sie sich das auf der Zunge zergehen lässt.  Wenn nichts Schlimmes passieren darf, dann ist alles tot. Lebloser Stillstand.

Es ist also alles grau in grau. Und kalt. Der Winter ist zurück. Innen und außen. Ja, Liebes, das macht dir Angst. Wie oft hast du schon nicht gewusst, wie es weitergehen soll? Wo dich dein Weg hinführen wird. Du darfst dieses Nicht-Wissen, diese Leere, diese Angst zulassen. Diese Eiseskälte, die dich bis auf die Knochen erstarren lässt. Bei der du nicht weißt, ob du sie überleben wirst. Oder für immer erfrierst.

Und da regt sich das Leben. Und die Lust. Die Lust auf das tiefe Leben. Nicht nur auf das Wieder-Gut-Machen. Sondern das im Eiswasser loslassen. Und dabei das Sterben einladen. Um kein totes Leben zu führen.




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